Interview: Immer mehr Umsätze werden im E-Commerce durch digitale Services und nicht mehr durch den Verkauf von Produkten erzielt. Das bietet vielen Händlern eine große Chance im Wettbewerb zu Amazon, findet Jochen Krisch.
Zalando weist im letzten Quartalsbericht über 250 Millionen Umsatz aus, die ohne direkten Verkauf von Fashion erzielt wurden. About You kündigt zu Beginn des Jahres seine eigene Service-Plattform Backbone an, mit denen dritte Händler auf die skalierbare Infrastruktur von About You zugreifen können. Gleichzeitig sprießen immer mehr spannende Verkaufskonzepte aus dem Boden, die nicht mehr den klassischen Sortimentsverkauf im Fokus haben. In einem wohl bekannten Whatsapp Interviewformat spreche ich mit Jochen Krisch, Betreiber von excitingcommerce sowie Gründer Deutschland's größter E-Commerce Konferenz der K5, über die Chancen und Potentiale, die sich dadurch für die E-Commerce Branche ergeben.
RUPPERT
Im Handel gibt es einen gravierenden Paradigmenwechsel. Amazon macht heute schon 80% seiner Gewinne ohne direkte Kundenbestellungen, sondern mit dem aus Skaleneffekten entstanden Webservice AWS. Wie siehst du hier die Entwicklungen? Wird sich der Trend verschärfen? Wird das der neue Standard?
Definitiv. Allein mit der Marge werden Händler kaum noch Geld verdienen können. Jeder wird überlegen müssen, wie er sich zusätzliche Erlösströme sichert.
JOCHEN
RUPPERT
Gibt es schon Unternehmen, die deiner Meinung nach einen richtig guten Job in der Entwicklung von innovativen Servicekonzepten machen?
Zalando natürlich, aber auch kleinere Spezialisten wie Keller Sports.
JOCHEN
RUPPERT
Selber schon einen Händlerservice privat genutzt?
Nein ;-), andere Frage bitte
JOCHEN
RUPPERT
Haha, gerne 🙂! Was machen die Zalandos und Keller Sports unternehmerisch anders? Wie schaffen sie es, aus dem alten Händlerparadigma auszubrechen, dass sich alles um das Sortiment dreht?
Sie denken zunehmend von ihren Stammkunden her und überlegen sich Services für ihre Hauptzielgruppen. Keller Sports hat nach einem Premium-Programm für Mitglieder kürzlich Keller Studios gestartet.
Mitglieder können hier über Keller Sports in unterschiedlichsten Fitnessstudios trainieren.
JOCHEN
RUPPERT
Muss man deiner Meinung nach erst eine gewisse Unternehmensgröße erreicht haben? So wie About you, dass mit 100 Mio Umsatz beginnt seinen ersten Stand-Alone-Service aufzubauen?
Das dachte ich bisher. Allerdings hat mich gerade Keller Sports eines Besseren belehrt. Für eine umfassende Plattform-Strategie braucht es sicherlich eine gewisse Größenordnung, aber ansonsten sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt.
Auch kleinere Händler arbeiten ja sehr nah am Kunden und wissen am besten, was sie ihren Nutzern zusätzlich anbieten können - von exklusiven Angeboten bis zu speziellen Zustellservices.
JOCHEN
RUPPERT
Wahrscheinlich eine der größten Möglichkeiten für Händler kundensegmentspezifische Services aufzubauen, die für die Großen Player wie Amazon viel zu unattraktiv sind.
Hierin sehe ich die Chance. Manches kann nur ein Kleiner anbieten. Ich denke, das wird sich ausdifferenzieren. Für jede Größenordnung gibt es lohnenswerte Services und Zusatzangebote.
Interessant ist ja, dass derlei Services nicht nur von den Kunden geschätzt werden, sondern auch von Herstellern und Lieferanten, die sehen, dass sich ein Händler um seine Kunden bemüht.
JOCHEN
RUPPERT
Fallen dir noch andere Händler ein, wo gerade Nischenservices etabliert werden, die über die üblichen Rabatt-Services wie kostenlose Retoure oder 100 Tage Rückgaberecht hinausgehen?
Das ist ein weites Feld. Outfittery oder Modomoto sind aus meiner Sicht reine Service-Anbieter, die auf "Styling-Services" etc. setzen. Auch im Foodbereich passiert momentan sehr viel.
Generell denke ich, das wird sich drehen: Heute sehen wir Händler mit Zusatzservices. Irgendwann werden das Service-Anbieter, die auch Produkte, etc. verschicken.
JOCHEN
RUPPERT
Fashion ist ein super Beispiel, wo gerade digitale Serviceansätze wie Styling, digital zugängliche Schneiderein oder auch Second-Hand-Plattformen neue Verkaufsmechaniken etablieren. Gibt es eine bestimmte Kategorie, wo du besonders brachliegende Potenziale siehst? Wo sich der klassische Verkauf besonders stark drehen wird?
"Food as a Service" und "Fashion as a Service" sind sicherlich die Naheliegendsten, mit aktuell der meisten Dynamik. Mich fasziniert aber auch Enjoy, die aus dem Elektronik/Hightech-Bereich kommen und an umfassenden Services für Marken und Hersteller tüfteln.
Große Chancen liegen im Premium-Segment und bei Kundengruppen, die weniger preissensitiv sind. Kürzlich haben sie "up & running" für Sonos vorgestellt oder ein "Personal Atelier with Home Delivery Service" für die Uhrenmarke TAG Heuer.
Da online alle nur auf günstige Schnäppchen fixiert sind, liegen quasi alle anderen Felder brach.
JOCHEN
RUPPERT
Eine meiner Hypothesen ist es ja, dass der Handel auf ein 0% Margen Geschäft zuläuft und das man nicht drumherum kommt weitere Service-Erlösströme zu erarbeiten. Wird das den neuen Handel auszeichnen? Das der Serviceansatz der Hauptgrund Nummer eins ist dort einzukaufen und nicht mehr das Sortiment?
Auf Minimargen wird es notgedrungen hinauslaufen, da das Internet viele der bisherigen Mehrwerte des Handels (Preis, Auswahl, Beratung, etc.) hinfällig macht.
Will er weiter relevant bleiben, muss der Handel also auf neue Mehrwerte setzen, die auf die Bequemlichkeit setzen oder auf die Zeitersparnis etc.
Beides sind aus meiner Sicht noch zu wenig beachtete Kundenbedürfnisse.
JOCHEN
RUPPERT
Von den neuen Spielern am Markt die du kennst und besonders stark serviceorientierte Plattformen aufbauen oder darauf umschwenken, wie gehen diese Gründer oder Unternehmen vor, um einen echten Kundenmehrwert zu schaffen?
Die grundsätzlichen Ziele wie mehr Bequemlichkeit sind ja schnell definiert. Das aber wirklich umzusetzen eine echte Herausforderung.
Ich glaube, das Wichtigste ist, sich von überkommenen Denkmustern zu lösen und die Vorstellungskraft zu entwickeln, dass es auch anders geht.
Hat man das erstmals geschafft, ist es relativ leicht. Die Herausforderung ist natürlich, tragfähige Geschäftsmodelle zu entwickeln und dabei immer wieder zu testen und zu experimentieren, was bei den Nutzern/Kunden ankommt.
Die meisten üben sich aber mehr im Optimieren als im Ausprobieren von Neuem. Ich glaube, dass man vieles erst durch Probieren herausfindet. Oder wie es die Mymüsli-Jungs propagieren: "Einfach machen".
JOCHEN
RUPPERT
Was sind deiner Meinung nach die Top 3 überholten Denkmuster im E-Commerce?
1. E-Commerce/Handel ist Einkauf und Verkauf von Produkten
2. Minimaler Preis und maximale Auswahl ist das maßgebliche Verkaufsargument
3. E-Commerce ist ein Technologiethema
Zum Um- und Weiterdenken empfehle ich immer wieder gerne das Buch "Blue Ocean Strategies".
JOCHEN
RUPPERT
Haha, gerade letzteres kann man zur Zeit in jeder Pressemitteilung lesen 🙂. Plötzlich sind alle Technologie Unternehmen.
Und was sind deiner Meinung nach die Top 3 Denkmuster die man mitbringen sollte, um einen neuen Serviceansatz am Markt zu etablieren?
Leider, ja. Dabei käme man mit einer Service-Denke sehr viel weiter.
1. Am Wichtigsten finde ich das Denken in Möglichkeiten und Potenzialen.
2. Echte Kundenorientierung fände ich wichtig. Also nicht nur: Was kann ich meinen Kunden mit meinen Möglichkeiten bieten, sondern, was will die Kundin wirklich?
3. Und schließlich Experimentierfreude, schnelle Tests und Prototypen und natürlich die Lust auf Neues.
JOCHEN
RUPPERT
Evtl. hast du hier auch noch eine Buchempfehlung oder Link-Quelle die es sich lohnt hierzu anzuschauen?
Eine gute Anleitung ist "Blue Ocean Shift", das im letzten Jahr erschienen ist. Da gibts sehr viele gute Beispiele aus der Praxis. Hilfreich zum Umdenken ist zum Beispiel auch "Lean Startup".
JOCHEN
RUPPERT
Und als letzte Frage noch: Welches serviceorientierte Unternehmen begeistert dich neben Enjoy noch und lohnt sich aus E-Commerce Sicht genauer anzuschauen?
Picnic als großer Wurf, der den Lebensmittelhandel versucht neu zu denken. Weitere Favoriten sind Stitch Fix und Poshmark (im Fashionsegment).
JOCHEN
RUPPERT
Super, vielen Dank für deine Zeit Jochen 🙂! Hat Spaß gebracht!
Gern geschehen 🙂!
JOCHEN
JOCHEN KRISCH
Jochen Krisch gehört in den Deutschland zu den führenden Köpfen, die sich mit der Zukunft des Handels auseinandersetzen. Auf seinem Portal excitingcommerce schreibt er regelmäßig über die spannendsten Entwicklungen im E-Commerce Geschäft. Mit der K5 Konferenz hat er u.a. größte deutsche E-Commerce Konferenz aufgebaut, wo sich jährlich die Innovationsführer über die Zukunft des digitalen Handels diskutieren.
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23. Juni 2017